Das Buch „Der weisse Strich“

Die Einführung von Liebold und Sälter

In diesem Kapitel möchte ich mich vor allem  mit den in dem Buch “Der weis-
se Strich“ veröffentlichten  Ausführungen der Strich-Maler befassen. Neben diesen beziehe ich mich noch auf Beiträge von Cornelia Liebold, Gerhard Säl-
ter und Anne Hahn, die in dem Buch als Spezialisten für DDR-Aufarbeitung und  Berliner Mauer zu Wort kommen und die Strich-Aktion entsprechend ihrer  speziellen berufsbedingten Perspektive umdeuten. Da ich auf die Inhalte dieser häufig  stark detailorientierten Texte Bezug nehme und die darin ent-
haltenen Informationen mit meinen Erinnerungen abgleiche konzentriert sich  das Folgende vor allem auf die Details der in dem Buch gemachten Ausfüh-
rungen, deren Thematsieirung häufg zu einer Mikroskopie der Einzelheiten führt, die vermutlich größteils allenfalls für diejenigen interessant sein könnte, die auch das Buch gelesen haben, auf das ich mich beziehe. Nichts desto trotz: die Ungenauigkeiten und Unwahrheiten in dieser Publikation erforderten einfach,daß die entsprechenden Sachverhalte öffentlich auch eine andere Darstellung erfahren.
 

Bereits in der thematischen Buch-Einführung durch Cornelia Liebold und Ger-
hard Sälter kündigt sich die Unerträglichkeit der in diesem Buch dominieren-
den Perspektive an, wenn es dort heisst: "Freigekauft, ausgereist und abge-
schoben trafen sie sich in West-Berlin wieder und störten sich recht bald an der dortigen Mauer-Idylle. Zwar bot der besondere Status von Westberlin auch ihnen einen Freiraum für neue Aktivitäten, aber dass die Mauer von vielen West-Berlinern nicht mehr als Begrenzung eines unfreien Staates und als Einschränkung des Lebensraums der DDR-Bürger wahrgenommen wurde, son-
dern nur noch als bunt bemalte Kulisse, irritierte sie. So entschlossen sie sich, die Mauer mit einem weissen Strich zu markieren und dadurch wieder als eine Grenze kenntlich zu machen, die, wenn es nach dem Willen der SED-Füh-
rung gegangen wäre, nicht nur die Freizügigkeit der Ostdeutschen einschränk-
te, sondern auch ihre Wahrnehmung. " (S.7)

An diesen Sätzen ist so ziemlich gar nichts wahr, denn der Lebensraum der DDR hat uns damals gerade am wenigsten interessiert. Gerade daß er von den beiden Autoren so besonders erwähnt wird lässt diese Aussagen fast als Af-
front gegen unsere damaligen Motive erscheinen: auf die Begrenzung des Lebensraumes der Westberliner hinzuweisen. Genau dieser öffentlich kaum mehr berücksichtigte Aspekt des Betonwalls wollte von uns thematisiert werden, da wir nun nicht mehr durch die östlich gelegene Mauer, sondern diejenige auf der Westseite  eingeschränkt waren und die Aktivitäten der einzelnen Protagonisten fast immer Aspkte ihrer  unmittelbaren Gegen-
wartserfahrung thematsierten. Also das,was letztlich einzig als wirklich er-
kannt werden kann, da es unmittelbar gegenwärtig ist. 

Es handelte sich bei der Aktion auch nicht - wie häufig und auch in dieser oben erwähnten Einleitung behauptet-  um Protest, sondern um einen Hin-
weis, einen Reflexionsanstoß, eine Bewußtmachung.

Auch die Mähr vom Abgeschobenwordensein wird in dieser Einleitung  ver-
breitet, obwohl von  den Mauermalern niemand abgeschoben worden. Alle hatten Ausreiseanträge gestellt, wobei es unerheblich ist, ob dem Antrags-
wunsch bloß die Einschränkungen des DDR-Lebens oder wie in meinem Fall durch Ausreiseantragstellung  massgeblich reduzierbare Haftverbüßungen zugrunde lagen. Diese die Ausreiseanträge begründende Not macht daraus keine Abschiebungen, andernfalls wären sämtliche realenNotsituationen entkommenden Flüchtlingsbewegungen als Abschiebungen unliebsamer
Bürger zu verstehen..

Es störte sich auch niemand von uns in Westberlin an der angeblichen Mauer-Idylle. Von Idylle konnte nämlich keineswegs die Rede sein, allenfalls von sich durch die Jahre einstellenden Normalisierungseffekten, die  allein durch die Zeit und bereits ohne all die Mauermalereien ihre Gewöhnungs-
Wirkungen zeitigten. 

Jürgen Onißeit stellte lediglich irgendwann Mitte der 80er Jahre fest, daß diese meterhohe  Betongrenze auch den Lebensbewegungsradius Westberlins einschränkte. Und das, füge ich hinzu,  auf  konträre Art zu den Einschrän-
kungen, die der Ostberliner durch sie hinnehmen mußte: Im Gegensatz zum Ostberliner konnte der Westberliner nicht mal eben völlig bürokratielos Westberlins städtischen Raum verlassen  oder gar ins erweiterte Berliner Umland fahren, andererseits aber jederzeit per Flieger oder über die DDR-
Transitstrecke irgendwohin in die weite Welt reisen, was dem Ostler wie-
derum versagt war. Der Westberliner blieb im Alltag in seiner Stadt gefan-
gen, der Ostler in seinem ganzen Leben in seinem Land, seinem Gesell-
schafts-System, war aber andererseits den engen städischen Begrenzungen, denen der Wesberliner ausgesetzt war, nicht unterworfen. 
Onißeits Idee der Markierung dieser Eingrenzung Berlin-West fand einen po-
sitiven Widerhall bei vier der von ihm und daraufhin auch von mir angespro-
chenen Personen, woraufhin die Aktion Wochen später starten konnte, weil sich dies aufgrund der Schul-Herbstferien, die alle Beteiligten zu dieser Zeit gehabt haben, als der ideale Zeitpunkt erwies. Der symbolische Hinweis auf diese unsere Westberliner Umgrenzung, der Expeditionscharakter dieser Grenzgebietserkundung und die gemeinsame Energieverausgabung für eine sinnvoll erscheinende Sache standen im Vordergrund. Alles andere ist nachträglich hinzugedichtet worden. Eine Motivation wird im übrigen nicht dadurch wahrer, nachhaltiger und eindeutiger, wenn man sie nur oft genug wiederholt. So hat uns die Symbolisierung der Westberliner Grenzen durchaus nicht derart heftig auf den Nägeln gebrannt, wie es heute mit den Worten „Störten sie sich an der Unerträglichkeit der Mauer“, „Mauerhass“ und der öffentlchen Wiederholung dieser fast schon als Obessionen lancierten Beweggründe den Eindruck erweckt. 

Es war Jürgen Onißeit, der uns als damaliger „Leader“ überhaupt bei der Werbung für seine Aktionsidee erst auf den Gedanken brachte, daß die Mauer unser Westberliner Leben im Grunde wie eine Ghettomauer umgibt, welche zudem durch die Mauermalereien in ihrer unseren unmittelbaren Lebensraum eingrenzende Wirkung kaschiert wird. Für mich war die Westseite der Mauer eigentlich immer angenehm  gewesen, denn sie hatte nicht nur dieses ihre Funktion konterkarierende bunte Erscheinungsbild, sondern hielt mich min-
destens von drei Wesen ab: vom DDR-Bürger, vom besonders in Ost-
deutschland landesweit verbreiteten kleinbürgerlichen Deutschen und vom Stalinkommunisten. Im Falle der Abschaffung der Mauer würde mit dem damit vermutlich einhergeneden Ende der DDR zwar dann auch der DDR-Bürger und der Stalinkommunist verschwinden, der kleinbürgerliche Deutsche würde aber größtenteils bleiben, wie uns die Geschichte nun seit 28 Jahren Mauerfall zeigt.

Hin und wieder sprach Jürgen Onißeit vom „Einbetonieren“ oder "Zuscheissen der DDR" und nahm bei dieser Wunschvorstellung  keine Rücksicht auf ir-
gendwelche dort lebenden Menschen, seien sie für oder gegen das dortige Regime.“Einfach zuscheissen den Laden“ sagte er. Man kann die egozen-
trische, bewußt mitleidlose Attitude dieser Vorstellung schlechtheissen. Das wäre allemal realitätsnäher als sie einfach deshalb zu ignorieren, um Jürgen Onisseits Idee zum weissen Mauerstrich als die zu einer solidarisierenden Erinnerung an das Schicksal der DDR-Bürger erscheinen zu lassen.

 


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